Jede Geschichte hat ihren ersten Satz

von Rajo Winter

„Wir hätten uns alles gesagt“ lautet der Titel des aktuell vorliegenden Buches der Autorin Judith Hermann. Natürlich wird nicht alles zur Sprache kommen. Doch das, was gesagt wird, zieht Leser:innen magisch an. Und worum geht es? Ums „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“.

Es wird vieles gesagt, aber nicht alles, denn in diesem Ablauf überraschender Szenen, Gespräche und Begegnungen in der Familie wie im Freundeskreis dürfen Leser:innen nie ganz sicher sein das wirklich wahre Leben zu erfahren.

Erzählt wird vom Schreiben und dem ersten Satz im Kopf der Autorin, ein Bild oder ein Moment, der etwas freisetzt und mit dem sich eine Geschichte entwickeln lässt.

In erster Linie dominiert in „Wir hätten uns alles gesagt“ die Nähe zur Autorin, das rein Private, die Privatsphäre mit vielen persönlichen Erinnerungen der Autorin aus der Kindheit, Begebenheiten über einen längeren Zeitraum an wechselnden Orten, das Schildern vieler unterschiedlicher Ansichten, von den Eltern und den Großeltern bis zum plötzlichen Todesfall eines Freundes und dem Verhalten in der Pandemie.

Nur die Autorin allein weiß, wie weit sie gehen darf.
Leserinnen und Leser werden konfrontiert mit Gedanken aus dem Alltag, mit Problemen, Krankheiten, dem Sein und dem Wollen.
Das Verschweigen oder Verschwinden wird nie offensichtlich. Es schwingt unterschwellig mit. Mal kommen Zweifel zur Sprache, mal sind es Entschlüsse, Verhaltensweisen oder Gespräche zwischen Freundinnen.

Oftmals werden Situationen auch in Träumen erklärt, die tatsächlich so hätten stattfinden können. Judith Hermann weiß genau, wie weit sie gehen darf, wann sie mit der Nähe der Anderen normalerweise alles sagen kann oder warum sie nur in Andeutungen ins Nicht-Sagen ausweicht.

Weil die Grenzen des Sagbaren nicht immer klar sind, eher verschwommen, erwähnt sie selbst, was wie und wo gewesen sein könnte und warum es doch ganz anders hätte sein können, bevor das schon wieder zu viel wäre.

Normalerweise bemerken Leser:innen das nicht, aber wie es gesagt wird, das ist große Kunst. Und das macht das Lesen zum wirklichen Vergnügen. Am Ende des Buches fragt man sich, ob es gut wäre, alles noch einmal zu lesen, um das Unsagbare im Denken und Handeln zu erforschen. Wird es möglich sein, alles zu erfahren? Das ist viel zu riskant, denn die Wirklichkeit könnte Leser:innen vor den Kopf stoßen.

Ursprünglich geschrieben waren die Texte für die traditionsreichen Frankfurter Poetik-Vorlesungen, die im Mai 2022 an drei Abenden stattfanden.

Jetzt stehen die Texte in Buchform – erschienen im S. Fischer Verlag – allen Interessierten zur Verfügung. Damit ist das Leseabenteuer allen Hermann-Fans zugänglich. Ein wahrhaftiges Vergnügen auf rund 180 Seiten. In jedem Fall herausstechend ist das Erlebnis mit dem unverwechselbaren Sound Judith Hermanns.

Der Hammer schwebt schon – die Katastrophe kommt noch

Im Rausch des Aufruhrs.
Das neue Sachbuch von Christian Bommarius,
erschienen im März 2022 in der dtv Verlagsgesellschaft, München

Eine Rezension von Rajo Winter

„Aufruhr“ ist der passende Ausdruck, mit dem der Journalist und Schriftsteller Christian Bommarius seine Leser:innen durch das komplette Jahr 1923 mit wechselnden Akteuren führt. Sachlich und mitreißend ist es, ihn dabei zu begleiten. Und als Lektüre für Hintergründe nur zu empfehlen.

Aufgebaut ist das Buch nicht thematisch, sondern gegliedert in Abschnitte von Januar bis Dezember, jeweils mit ansprechenden Schwarzweiß-Fotos. Geschrieben ist das Ganze überaus gut. Keine historische Abhandlung im herkömmlichen Sinn ist es, Vorgänge passieren und daran orientiert sich alles. Anziehende Überschriften wie „Der hysterische Backfisch“ oder „Kisch besucht Maxim Gorki“ oder „Dora findet für Franz ein Zimmer“ machen neugierig.

Wie auch immer, man fühlt sich zeitversetzt. Und alte Bekannte, die in Erscheinung treten, sind einem geläufig, wirken aber auch erstaunlich frisch, im anderen Licht betrachtet. Beim Lesen werden einem die Beziehungen und Zusammenhänge deutlich, die man so nicht kannte.

Zur Sache: Wir schreiben das Jahr 1923, ein Jahr der Not, ohne Frage. Aber auch Mode, Kunst, Revolution und Widerstand bestimmen das Leben. Schriftsteller, Bildende Künstler und Musiker sind wie selbstverständlich in die Geschehnisse involviert.

Beim Lesen wird einem sofort klar, was sich damals alles zusammenbraute. Während das Brot immer teurer wird, bewegen Umsturzversuche die Gemüter. Leichen pflastern so manchen Weg. Fast täglich gibt es Neues zu berichten. Einige der Todesopfer 1923 gehen aufs Konto von Serienmörder Fritz Haarmann. Aber das nur nebenbei.

Geprägt von zahlreichen Auseinandersetzungen in der Politik wie im Überlebenskampf der bürgerlichen Schichten endet dieses wilde Jahr. Die Politiker bekommen noch einmal die Kurve. Vorerst. Das dicke Ende bahnt sich bereits an.

Journalist und Schriftsteller Bommarius schildert die Ereignisse, Ursachen und Zustände sowie die agierenden Personen auf 281 Seiten überaus spannend. „Im Rausch des Aufruhrs“ reichen oftmals die Momentaufnahmen, um Leser: innen vor Augen zu führen, wie sich das Leben damals abspielte. Auch anderswo in Europa.

Der Autor präsentiert das ganze Jahr in einer recht aufgelockerten Form, ohne roten Faden. Das animiert je nach Lust und Laune, mal diesen, mal jenen Monat aufzuschlagen, also vor und zurück zu blättern oder einfach hängen zu bleiben bei einer Überschrift wie „Ein Straßenbahnticket für 100 000 Mark“.
Unterstützt wird diese Art des „freien Lesens“ noch durch den Anhang „Was weiter geschah“ und den vielen Anmerkungen sowie einem hilfreichen Personenregister.

Fazit:
Schon nach einigen Seiten erkennen Leser:innen, wie fundiert die Inhalte sind. Es lassen sich viele neue Eindrücke sammeln und Fragen nach warum? wieso? weshalb? für ein geschichtliches Verständnis der 1920er Jahre klären. Der mitreißende, aber seriöse Schreibstil trägt wesentlich dazu bei, die erzählten Dinge auch gut in Erinnerung zu behalten. Das Buch informiert umfassend und erfüllt fast die Aufgabe eines Nachschlagewerks für die kleinen Details und vielsagenden Netzwerke damaliger Zeiten.

Die Wandlung vor der Verwandlung

KRASS von Martin Mosebach, Roman. Rowohlt Verlag, 528 Seiten

Der Roman „Krass“ von Martin Mosebach stellt eine echte Herausforderung für Leserinnen und Leser dar. Der Einstieg fällt leicht. Mit Hilfe eines Zaubertricks werden die Grenzen des Möglichen geöffnet. Schon ist der Weg frei für neue Begegnungen und Entdeckungen. Doch es wäre verkehrt, den Roman zwischendurch oder auf die Schnelle zu konsumieren. Sich einlassen auf das opulente Werk, sich mehr Zeit zu nehmen, die Dinge besser zu verstehen und zu genießen, das ist unverzichtbar.

Nicht nur die zahlreichen Figuren werden einem nahegebracht, sondern auch die kunstgerechte Sprache des Autors ist außergewöhnlich generös und damit ganz schön krass. Sie wirkt magisch, verführerisch, lässt einen nicht wieder los. Im Vordergrund des Romans Krass stehen Liebe, Geld und Magie, die von Ralph Krass, der Titelfigur, ausgehen. Das klingt zunächst banal, ist aber längst nicht alles. Stellen sich im Laufe der Entwicklung erst einmal weitere erzählerische Sphären, Traum- und Gedankenwelten, Städtebeschreibungen (Neapel, Kairo) und Begegnungen mit Charakteren der überraschenden Art ein, eröffnet sich beim Lesen die Vielfalt der Phantasie mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Gewollte Zufalls-Ebenen und enge Versteckspiel-Nischen gesellen sich dazu. Der Lesestoff ist gewaltig und nicht in einem Rutsch zu schaffen. Pausen sind deshalb erforderlich.

Aufgeteilt ist der Roman in drei Abschnitte: Allegro imbarazzante, Andante pensieroso, Marcia funebre. Auf den über 500 Seiten finden sich nach dem mitreißenden Auftakt in Neapel durchaus diverse Irrwege oder Abschweifungen, Orts- und Perspektivwechsel und eine Fülle von Gedanken. Die Zufälle sind natürlich gewollt, wirken jedoch durchschaubar. Das muss so sein. Was letztlich bleibt ist das Porträt eines Geschäftsmannes, der ganz zum Schluss seine menschliche Seite und damit auch seine Schwächen zeigt.

Sprache in Bestform ist es, die diesen Gesellschafts-Roman prägt und damit fehlende Spannung ersetzt. Erst das geschriebene Wort in großartiger Formulierungskunst manifestiert im Text von Anfang bis Ende das, worauf es ankommt: Sprache als Mittel zum Zweck, den Dingen Leben einzuhauchen. In den Dialogen wie in den ironischen Betrachtungen des Autors Mosebach. In einprägsamen Bildern wie in unvergesslichen Figuren. Immer wieder taucht das Motiv der Spiegelung auf. Leser*innen werden sich unvermittelt in einem Kaleidoskop zwischenmenschlicher Beziehungen, falscher Entscheidungen und trügerischer Momente wiederfinden.

Zu den brillanten Szenen zählen stimmungsvolle Konstellationen voller Selbstzweifel und Größenwahn, kurze Aussagen mit starker Wirkung und bemerkenswerte Gefühlsbeschreibungen. Alles angereichert mit der Gewissheit, dass Vieles ohne die Macht der Sprache gar nicht denkbar wäre. Das allein trägt. Wer es nicht glaubt, sollte einige Passagen laut vor sich hin lesen.

Kritikpunkte lassen sich nicht vermeiden. Der starke Anfang des Romans zerfasert im weiteren Verlauf. Außergewöhnliche Höhepunkte fehlen. Krass ist ein Roman, der durch seine Üppigkeit glänzt und von Detailfreude lebt. Handlungen ergeben sich stets sprunghaft. Mit nachhaltiger Wirkung. Die Erzählweise variiert, wird durch Rückblicke, Tagebuchaufzeichnungen und später nachgereichte Erklärungen ergänzt. Was passiert, das passiert. Mal langweilt es, mal wird es zum Happening. Neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten. Warum auch! Hauptsache das Lesen wird zum Vergnügen. Gerade deshalb werden Leser*innen sagen: Ein tolles Buch!

Verschmähte Liebe als Ursache des Horrors

Mary Shelley – Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Bereits vor vier Wochen habe ich den Roman „Frankenstein“ von Mary Shelley ausgelesen. Ein phantastisches Buch, ohne Frage. Doch jeder Versuch einer abschließenden Betrachtung zieht sich in die Länge, weil mir immer wieder neue Aspekte durch den Kopf schießen: plötzlich auftauchende Gedanken-Verkettungen, blitzartige Eingebungen und Fragen, die das Ganze in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Also frage ich mich, wie vielschichtig dieser Frankenstein tatsächlich ist. Und überhaupt möchte ich wissen, wie mehrdeutig ich den Roman verstehen darf.

Der künstliche Mensch ist plötzlich da. Vermutlich mit Hilfe von Elektrizität. Er atmet. Er bewegt sich. Aber denkt er schon? Aus Leichenteilen zusammengesetzt, erweckt Doktor Frankenstein einen künstlichen Menschen zum Leben. Genaueres verschweigt die Autorin. Merkwürdig schnell versteht die Kreatur ihre Situation, sucht Kontakt zu ihrem Schöpfer und kann nicht begreifen, dass dieser seine Lebens-Kreation verstößt. Doch Frankenstein ist angeekelt von seinem abgrundhässlichen Geschöpf. Er überlässt den künstlichen Menschen sich selbst. Weil er sein Werk vergessen möchte. Doch sein Verhalten wird sich später rächen.

So verschwindet das Wesen auch noch von selbst. Frankenstein als erschöpfter Schöpfer erkrankt. Einige Zeit streicht ins Land ehe er wieder gesund ist. Die Geschichte geht zunächst harmlos weiter. Doch mit der Ungewissheit über den Verbleib des Monsters beginnt das Chaos im Leben von Doktor Frankenstein. Die erste Todesnachricht trifft ein.

Im Wechselspiel der Figuren

Auslöser des Leidens in diesem mehr als 200 Jahre alten Roman ist zweifellos der wissenschaftliche Forscherdrang und ein krankhafter Ehrgeiz, der zur Erschaffung des zunächst harmlosen Lebewesens führt. Dahinter steckt die schicksalhafte Idee der Figur Frankenstein. So wird er zum Schöpfer, der aber fahrlässig und ohne Plan handelt. Die Sache entgleitet ihm. Frankenstein ist nicht mehr Herr der Lage. Seinem Wesen versagt er jegliche Zuneigung. Sein Hass auf den künstlichen Menschen zielt im Gegenzug auf ihn, den Schöpfer, der sich nicht mehr um seine Schöpfung kümmert. Die Rache seines Geschöpfs trifft ihn hart. Denn durch Frankensteins Verschwinden muss sich das Wesen die menschlichen Verhaltensweisen selbst erarbeiten. Es ahmt die Lebensgewohnheiten der Menschen nach, lernt die Sprache und entwickelt ein menschengleiches Denken und Handeln. Gerade weil dem Geschöpf Zuneigung und Hinführung zum Leben fehlt, ebenso das Verständnis und die Anerkennung in der Gesellschaft, entwickelt es sich zum Feind der ihm umgebenden Lebensweise. Ein Liebe und Anerkennung suchendes Wesen verkommt auf diese Weise zur Bestie: es übt Rache, weil die Liebe versagt bleibt.

Die Wandlungen oder auch Metamorphosen des Geschöpfes reichen vom harmlosen Kunstmenschen zum mittfühlenden Erdenbewohner, weiter zum rachsüchtigen und kaltblütigen Monster und wieder zurück zur leidenden Kreatur. Mit der Sozialisierung durch das Annehmen der Sprache der Menschen und ein Verinnerlichen bestimmter Verhaltensweisen wird das Monster fast menschengleich. Doch seine Hässlichkeit, das Monströse, sind Gründe, warum es von den Menschen gehasst wird und keinen Platz in der Gesellschaft finden kann.

Das Monster erscheint an den versteckten Orten, an denen sich Frankenstein aufhält. Wie eine Wahnvorstellung mit Verfolgungsangst. Es ist da, wie eine Erscheinung. Zu jeder Zeit im Verlauf der Handlung wird die Abhängigkeit deutlicher: der eine braucht den anderen, sonst ist er nichts. Die Verknüpfung beider Wesen lässt sich auch mit der Beziehung Schöpfer Gott und Schöpfung Mensch vergleichen. Dazu kommen Sehnsuchtsvorstellungen von unverwüstlicher Stärke, übermenschliche Fähigkeiten, die Kälte auszuhalten. Es gibt auch Wesens-Ähnlichkeiten bis hin zum Wunsch, eine Gefährtin zu besitzen. Doch Sex unter Monstern erscheint selbst Frankenstein dann doch nicht ganz geheuer zu sein. Erstmals macht er sich Gedanken über die Folgen und verweigert, dem Dämon eine Gefährtin.

Untergang als Lebensprinzip

Eine Tat (die Kreation neuen Lebens) wird somit existenzbestimmend für die Protagonisten, bringt ein schweres Unheil für Doktor Frankenstein und seine Familie und führt zu Selbstvorwürfen, Zweifeln und Reue mit aller Traurigkeit und mit dem größten Elend, dem jede Hoffnung fehlt. Der Schöpfer und seine Schöpfung sind beide verflucht. Beide sitzen sozusagen in einem Boot, ihre Schicksale sind eng miteinander verknüpft. Für beide wird das Leben zur Qual. Und sie durchleben einen Rollentausch. Zuerst jagt das Monster Frankenstein und zum Schluss Frankenstein das Monster. Der wenig kraftvolle und schwache Schöpfer verfolgt seine unheilvolle Schöpfung. Von Anfang an wird deutlich, dass er daran zugrunde gehen muss. Aber auch für das stärkere Monster selbst gibt es keine Zukunft, nur ein Ende.

Anfang und Ende des Romans spielen in der Eiswüste der Arktis rund um den Nordpol. Dies allein klingt schon absurd, weil Leben dort nicht möglich ist, wirkt aber in jeder Hinsicht schlüssig hinsichtlich der Seelenzustände der Protagonisten. Zufällig wird Frankenstein als Verfolger des Monsters völlig entkräftet auf dem Schiff des Forschers Robert Walton aufgenommen. Im Zustand äußerster Schwäche beginnt er seine Erzählung, die Walton aufschreibt. Zu Beginn und am Ende des Romans sind es die Briefe des Polarforschers Walton, die behutsam in die eigentliche Geschichte lotsen und wieder aus ihr herausführen. Frankenstein, Walton und das Monster bildet die ideale Dreierkonstellation, die deutlich macht, das unkritisch Forschende, das Fremde, Böse und das Vernünftige lassen sich erkennen und beherrschen, sofern man menschlich handelt.

Getrieben sind Schöpfer und Schöpfung durch innere Kälte und Erstarrung, wie die Umgebung. Hinzu kommt der über beiden Figuren schwebende Tod, der im Verlauf der Konfrontation oftmals herbeigesehnt wird. Walton mit Parallelen zu Frankenstein steht vor dem Schritt in diese Kälte, hat aber noch Gefühle fürs richtige Leben und erkennt seine Verantwortung. Rechtzeitig steuert er um und handelt so vernünftig.

Ein unverstandenes Geschöpf

Der Roman von Marie Shelley erweist sich als hinterlistige Story mit einem versöhnlichen Ende. Das Hinterlistige zeigt sich im Zusammenbruch der Beziehungen. Durch den Eigensinn Frankensteins sterben seine Liebsten und damit endet auch seine Fähigkeit zu lieben. Der größenwahnsinnige Wissenschaftler stirbt. Der Dämon bekommt noch einen starken Auftritt am Ende. Vor dem toten Frankenstein erklärt das Monster, seinen Schlitten anzünden und sich selbst auf einem Scheiterhaufen richten zu wollen. Unheimlich sollte die Geschichte sein, so einst die Absicht von Mary Shelley, denn sie suchte nach einer Gespenstergeschichte. Zunächst war es nur als Zeitvertreib unter Freunden gedacht, 1816 am Genfer See, in dem Jahr ohne Sonne, als auch das falsche Wetter für Unmut sorgte. Dass daraus viel mehr geworden ist, lässt sich zurückführen auf das Talent der Autorin. Ihr Werk -1918 erschienen – zählt in England zu den wichtigsten literarischen Werken.

Was muss man der Autorin hoch anrechnen? Der Aufbau ist beachtlich. Für ihre Zeit (1816) war das ganze Unternehmen schon recht waghalsig. Zunächst die Thematik. Rüttelte sie damit nicht an den Werten? Was sie schildert, enthält Spannung, Erkenntnis und auch Philosophisches für die Nachwelt.

Das Besondere ist das Verquicken von Briefroman, Reiseroman und Schauerroman. Der Held entwickelt sich in die falsche Richtung, aus Ehrgeiz, aus dem Drang, etwas beweisen zu wollen. Der Antiheld oder Gegenspieler ist dabei der fehlgeleitete Versuch künstliches Leben zu erschaffen. Schuld umgibt den Schöpfer, die ihn immer tiefer in den Abgrund reißt. Alles, was er liebte, wird ihm genommen, er wird zum Einzelgänger, wie auch sein Monster.

Zurück bleibt der Einsichtige, der Kapitän des im Eis festsitzenden Schiffes, mit der Erkenntnis, dass Tod und Leben nicht von Eigennutz getrieben sein sollten, weil das, was zu Unmenschlichem antreibt, nicht immer gut ist für die Nachwelt. Sinnvoller erscheint es ihm zu sein, seine Mannschaft zu schonen und zurück in die Zivilisation zu kehren.

Der Roman bietet weitaus mehr als eine banale Horrorgeschichte. Er ist vielmehr eine Odyssee, die vielleicht damals zur Zeit der Entstehung noch skandalös gewesen sein mag. Nach allem, was heute in Literatur und Film zu dem Thema existiert, wirkt die Handlung in der Darstellung des Schreckens recht harmlos. Schockierende Gruseleffekte sind nicht zu erwarten. Aber darum geht es auch gar nicht. Vielmehr ist es das Zusammentreffen von Monster und Mensch, was zu denken gibt.

Wäre es nur das Fremde, hätte es eine Annäherung geben können. Es sind aber die ähnlichen Entwicklungen zwischen Frankenstein und Monster. Deshalb ist es auch naheliegend, dass es für Frankenstein und seinen künstlich erschaffenen Menschen keinen Ausweg und somit kein gutes Ende geben darf.

Um die Gegensätze nachdrücklich zu machen, spielt das Wetter eine große Rolle, verbunden mit der Kälte, der Landschaft und den Ortswechseln. Das ständige Getrieben-Sein kommt bei Frankenstein zum Ausdruck in der fortwährenden Flucht vor sich selbst. Von Genf nach Ingolstadt, in die französischen Alpen, durch Deutschland, auf die Orkney-Inseln, nördlich von Schottland, über Irland zurück nach Genf und weiter in die Arktis. Was auffällt, sind die weit voneinander entfernt liegenden Schauplätze, die Sprachbarrieren und die Wettereinflüsse.

Was ebenso gut im Text herausgearbeitet wird, ist die Frage von Schuld und Sühne. Im „Geständnis“ des Schöpfers Frankenstein, der das Wesen hasst, es selbst immer als Teufel und Dämon beschimpft, kommt dies klar zum Ausdruck. Selbstvorwürfe und Reue werden, je mehr Opfer es gibt, umfassender. Das, was das Leben einst wertvoll machte, verschwindet. Die Ruhe. Die Liebe. Die Familie. Alles wird zerstört. Und damit auch der Schöpfer selbst. Frankenstein hatte einen Traum. Doch als er sich erfüllte, waren die Bedenken größer als die Freude und ein Bekenntnis zur Schöpfung mit wissenschaftlichem Austausch hatte keine Zukunft. Alles umsonst!

Reisen heißt Verschwinden

Verzweiflung steckt auch im Akt der Verfolgung. Frankenstein ist dem Monster unterlegen, zunächst körperlich, dann aber auch geistig, hinsichtlich der Willensstärke des Monsters. Alles, was passiert könnte daher schon wie die göttliche Bestrafung für seinen Akt der Schöpfung angesehen werden. Doch es geht alles schief. Wo die Liebe fehlt, das Miteinander ausbleibt, breitet sich der Hass aus. Hass erzeugt Gegenhass. Ob Willenskraft, wissenschaftlicher Ehrgeiz, Ruhm und Ehre, ob Monster oder gesellschaftliche Fehlentscheidungen. Gerade in heutiger Zeit lässt sich „Frankenstein“ modern deuten. Bezogen auf die Aussichten der Künstlichen Intelligenz darf man schon mal der Phantasie freien Lauf lassen.

Kein Schicksal ohne Verluste

Der Roman Menschen neben dem Leben von Ulrich Alexander Boschwitz

Als Wiederentdeckung wird der Roman von Ulrich Alexander Boschwitz angepriesen, tatsächlich ist er aber vor allem eine Entdeckung. Wie ein versunkener Schatz oder eine verlorene Perle. Und dies deshalb, weil in dem beachtlichen Fund die Stimme eines Autors aus der Vergessenheit auftaucht. Eine gewichtige Stimme, die derartig klare und realistische Bilder entwirft, authentische Szenen beschreibt, so eindeutige Lebensweisheiten auftischt, Erfahrungen und Resümees vermittelt, dass einem vor Anschaulichkeit und Realitätsfülle geradezu der Atem stockt.

Sogleich möchte man mehr über die zeitgeschichtlichen Hintergründe erfahren. Wie war das Leben, wie sah es aus in den 1920er Jahren in Berlin? Im Nachwort des Herausgebers Peter Graf wird der Stummfilm aus dem Jahr 1927, „Berlin – Symphonie der Großstadt“ von Walther Ruttmann erwähnt. Dieser Hinweis trifft genau den Kern: Der Dokumentarfilm (u. a. auf YouTube) zeigt in starken Bildern die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und damit die Stimmung jener Jahre.

Leidenswege ohne Ende

Im Mittelpunkt des Romans „Menschen neben dem Leben“ stehen die Schicksale der Auf-Der-Strecke-Gebliebenen: Die ausgemusterten Arbeiter, Verkäuferinnen, die ausgestoßenen Kleinkriminellen, verachtete Zuhälter und Prostituierte, allemal die Vergessenen, die Kriegsversehrten des Ersten Weltkrieges und Opfer der Weltwirtschaftskrise. Einem jeden ist etwas abhandengekommen. Irgendwann gab es einen Punkt im Leben an dem es einen Verlust gegeben hat. Und Einschnitte dieser Art verlangen eine Neuorientierung. Für einige führt der Weg nach unten.

Der historische Blick auf die 20er Jahre ist in den Dialogen und Situationsbeschreibungen vorhanden. Parallel tauchen vergleichbare Bilder der Jetztzeit im Kopf der Lesenden auf. Denn obwohl der Text schon rund 90 Jahre existiert, sind alle Arten von Leiden, Gefühlen und Gedanken brandaktuell. Und der Stil des Autors ist modern. Nichts Staubiges, nichts Unreifes oder Unvollendetes. Einfach eine Geschichte mit viel Atmosphäre.

Danebenleben mit vielen Anstrengungen

Beschrieben wird in erster Linie die Welt der Randgruppen. Neben den Ausgegrenzten und Verlorenen kommen natürlich auch die Bessergestellten im Roman zur Sprache. Dort, wo die Gegensätze von Arm und Reich aufeinanderprallen, macht sich Resignation breit oder wird zur Konfrontation. Dargestellt anhand der westdeutschen Berlinbesucher Amtsgerichtsrat und Rechtsanwalt in eindrucksvoller Szenerie.

Der Roman trifft den Nerv der Zeit, ohne zu übertreiben. Und er wirkt gerade dann besonders erschütternd, wenn es darum geht, die inneren Beweggründe der Protagonisten, ihre Brüche und gescheiterten Träume, die vergangenen Leiden, Irrtümer, Krankheiten und verpassten Lebensziele zu verdeutlichen. Sein “Personal“ stellt der Autor nach und nach vor: von Fundholz und Tönnchen über Grissmann, Minchen Lindner, Frau Fliebusch, über den blinden Sonnenberg und seiner Frau Elsi sowie einigen anderen bis zum „Schönen Wilhlem“.

Man kann ihn gar nicht genug loben, diesen Autor Boschwitz, der gut recherchiert haben muss. Damals, als er den Roman schrieb, war er knapp über 20 Jahre alt. Erschienen ist das Buch erstmals in Schweden, wo Boschwitz als Jude auf der Flucht vor den Nazis vorübergehend lebte.

Atmosphärische Dichte und sich überstürzende Ereignisse

Alle Lesenden sollten sich darauf einstellen, dass sie auf rund 300 Seiten den Verlorenen mit ihren Ängsten und Nöten begegnen werden. Sie durchleben die Tagesabläufe der Protagonisten und erfahren viel über die Bedürfnisse und Verhältnisse in jener ungewissen Zeit. Gerade in den brisanten Szenen der Auseinandersetzung hat der Roman seine stärksten Seiten. Das kommt eindrucksvoll und emotional überzeugend im letzten Drittel zur Sprache: beim Tanzen und Trinken im Vergnügungslokal „Fröhlicher Waidmann“. Hier überschlagen sich die Ereignisse. Hier geht es um Leben und Tod, um eine gewalttägige Konfrontation, aber auch dem gegenseitigen Annähern und Verliebt-Sein, der Flucht und dem Neubeginn.

Was macht den Roman zu einer Entdeckung?

Ist es die Zeitreise, auf die sich Lesende begeben? Sind es die klar gezeichneten Figuren? Oder ist es die Sprache des Autors? Vermutlich sind es der Schmerz und die Angst, dass Leben und Sein nicht immer gut ausgehen könnte. Kombiniert mit der Hoffnung, dass es aber auch nach dem Ende jeder „Pechsträhne“ eine Zukunft gibt und „ein Gefühl der Freude“, wie Fundholz am Ende empfindet. Darin steckt der Wunsch, dem Elend doch noch zu entkommen. Wer sich auf das Buch einlässt, wird nicht nur bereichert davongekommen, sondern auch viel gewinnen: das Vertrauen in die Kraft der Literatur.

Starkes Duo erinnert an Sherlock Holmes und Dr. Watson

Der aktuelle Roman von Anthony Horowitz

Schon nach den ersten 8 Seiten – der Vorgeschichte zu einem ungewöhnlichen Mordfall – stand für mich fest: ein solcher Anfang ist wie geschaffen für einen unterhaltsamen Roman.

Zunächst war da nur diese Ahnung, und die Neugier, um welchen Plan es sich in diesem Kriminalfall wohl handelt. Im Verlauf der insgesamt rund 360 Seiten des Buches gibt es eine Reihe von möglichen Tätern und Spannung bis zum Schluss.

Die Suche nach den Hintergründen und den Tatmotiven blieb über weite Strecken bestimmend für den Verlauf der Handlung. Was hatte der anfängliche Auftritt einer älteren Dame in einem Bestattungsinstitut mit dem Auftrag ihrer eigenen Bestattung auf sich? War es ein Zufall, dass sie Stunden später Opfer einer Gewalttat wurde? Ein dunkles Geheimnis wird gelüftet.

Gleich am Anfang der Ermittlung hat der Leser einen abrupten Wechsel in der Perspektive zu verkraften. Fiktion und Wirklichkeit treffen aufeinander. Der Autor persönlich kommt ins Spiel. Er heißt in der Story wie der Autor des vor mir liegenden Buchs: Anthony Horowitz. Diesen Autor kannte ich noch nicht. Doch mit diesem Roman wird er an Popularität gewinnen. Und noch etwas ist ganz auffällig: die Ausgangslage, dass ein Privatdetektiv einen Autor sucht, der ein Buch über ihn schreiben soll, während er den Mord an Diana Cowper für die Polizei aufklärt.


Zwei ungleiche Typen – ein Team

Es gibt somit zwei ungleiche Hauptfiguren: dem eigenwilligen und zweifelnden Autor Horowitz steht der freiberufliche Detektiv Daniel Hawthorne zur Seite, ein undurchsichtiger, überdurchschnittlich intelligenter, aber komplizierter Typ. Gerade daraus entwickelt sich eine anregende Konstellation mit teils amüsanten Dialogen und überraschenden Wendungen.
Während Hawthorne ermittelt, sammelt der Autor Eindrücke, Aussagen und Stimmungen, fotografiert und nimmt O-Töne auf. Währenddessen stehen häufig unterschiedliche Ansichten im Hinblick auf die Darstellung der späteren Geschichte im Raum. Der Leser ist somit live bei der Recherche dabei und bekommt gleichzeitig den fertigen Roman geliefert. Auch nicht schlecht.

Hawthorne ist spezialisiert auf komplizierte Fälle

Der Autor erzählt seine Geschichte aus der Ich-Perspektive. Das wirkt glaubhaft und zeigt dem Leser, wer hier die Fäden in der Hand hat. Auch die nach und nach eingeführten Figuren sind stark dargestellt und ergeben für den Leser jeweils ein stimmiges Bild. Die Atmosphäre wechselt. Es gibt laufend neue Anhaltspunkte, überraschende Dinge, offene Fragen, Verdachtsmomente, mögliche Täter und weitere Todesfälle. Das alles liest sich insgesamt sehr gut, ist flüssig geschrieben, die Dialoge sind ansprechend, die Schauplätze gut gewählt. Und die Figur des Detektivs Hawthorne prägt sich besonders stark ein. Er tritt überzeugend auf und gibt dem Leser Vertrauen, weil er alles im Griff zu haben scheint.

Spannungsbögen gibt es einige, doch besonders nachhaltig ist mir die Szene mit der Entlarvung des Täters kurz vor Ende des Buches in Erinnerung geblieben. Insgesamt bietet der Roman „Ein perfider Plan“ als Auftakt zur Krimireihe „Hawthorne ermittelt“ beste Aussichten auf weitere schwierige Fälle und ebenso geniale Lösungen durch Hawthorne und Horowitz.

„An den Ufern der Seine“ – PARIS als Quelle der Inspirationen

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Denkimpulse und Aufbruch-Stimmung – das erstaunliche Paris-Buch von Agnés Poirier, gerade erschienen bei Klett-Cotta

Dieses Buch hat es in sich. Es steckt randvoll mit Fakten, Namen und Ereignissen. Es wirkt geradezu kreativitätsanregend. Deshalb sollte jeder, der ein Auge auf das ansprechende Cover des Sach-Buches „An den Ufern der Seine“ von Agnés Poirier wirft, sich zu allererst fragen, ob man überhaupt der richtige Leser dafür ist. Schließlich liegen rund 450 Seiten Text vor einem. Und es geht in vier Teilen mit 16 Unterkapiteln um das Leben, Lieben und Leiden der Intellektuellen in Paris über einen Zeitraum von 10 Jahren. Beginnend in der Zeit der Besetzung Frankreichs durch die Nazis (1939) und dem Widerstand der Résistance, weiter über die Befreiung der Alliierten und den politischen wie gesellschaftlichen Neubeginn in den Nachkriegsjahren, hin zu einer gewissen Normalität (1949). Auf keinen Fall sollte man das Buch mit einem Reiseführer verwechseln, obwohl es sofort Lust darauf macht, Paris mit eigenen Augen an den Originalschauplätzen zu entdecken. Zur Orientierung beim Lesen hilft immerhin der Ausschnitt aus dem Paris-Stadtplan konzentriert auf das linke Ufer, „Rive Gauche“.

Sobald die Affinität zur damaligen Zeit, zur Stadt und zu den „handelnden Personen“, wie den „Lichtgestalten“ Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus geklärt ist, darf man sich getrost auf ein abenteuerliches wie abwechslungsreiches Kaleidoskop einlassen. Man kann das Buch beruhigt lesen, wenn man noch gar nichts weiß über die damaligen Künstler, über die Schriftsteller und Verleger, die Dichter und Denker dieser Zeit. Man kann sich aber auch als jemand mit viel literarischer Erfahrung noch auf Unbekanntes einlassen, weil es vieles neu zu entdecken gibt. Der Stoff reicht vom künstlerischen Schaffen in Literatur, Malerei, Architektur, Jazzmusik und Schauspielerei über die Entwicklung des Existenzialismus und der Jazzmusik als Massenbewegung bis hin zum Kommunismus und weiteren politischen Bezugspunkten der Zeit.

Von Seite zu Seite werden Lesende das Wissen begieriger in sich aufsaugen. Das liegt vor allem an der mitreißenden wie magischen Erzählweise von Agnés Poirier. Sie erzählt auf besondere Art von den Ereignissen, bindet die handelnden Personen authentisch ins Geschehen ein, schafft somit eine angenehme Atmosphäre, die es leichter macht, dem Geschehen mit wachem Interesse an Kunst und Kultur zu folgen. Als Leser fühlt man sich dabei jederzeit ganz dicht dran und erfährt persönlichste Ansichten und Erfahrungen aus den Zitaten im Text. Man wird Künstlerinnen und Künstlern begegnen, ihren Ideen und Liebschaften, ihren Zweifeln und Charaktereigenschaften. So folgt der Leser den wichtigsten Personen der Zeit durch Paris und erhält viele Anregungen, die er weiterverfolgen kann, beispielsweise, indem man endlich einmal die Frühwerke von Samuel Beckett liest.

„Am Ufer der Seine“ ist ein großartiges Buch, weil es so vieles konzentriert zur Sprache bringt: Von Kapitel zu Kapitel ist man mehr und mehr begeistert von der Vielseitigkeit, den Zusammenhängen, die einem klarwerden, die Türen, die sich öffnen und durch die man hineinblickt auf das Haben, Werden und Sein junger und alternder Schriftsteller, Philosophen und Journalisten.

Nur gut, dass es im Anhang einen Überblick mit vielen Anmerkungen und einem Namensregister von A bis Z zu den erwähnten Personen gibt. Um das Ganze noch stärker zu verinnerlichen, darf man am Ende dieser fantastischen Exkursion ins erwachende Paris meinem Rat folgen: sofort noch einmal lesen! Dieses Buch ist es wert.

 

Tyll – der neue Roman des Erfolgsautors Daniel Kehlmann , erschienen im Verlag Rowohlt

DSC_0325 (3)Jemand hatte mir kürzlich erzählt, dass er Daniel Kehlmanns TYLL gerade mit größter Begeisterung lesen würde. Das hätte mich stutzig machen sollen. Denn diese Jemand war auch von Paul Austers „4 3 2 1“ ganz angetan gewesen. Stattdessen suchte ich nach Rezensionen und fand Meinungen von Kritikern, die allesamt positiv waren. Nur im Literarischen Quartett hatte Thea Dorn das Werk als vertane Chance bezeichnet, dazu empfohlen, doch gleich den Simplicissimus von Grimmelshausen zu lesen. Also wollte ich selbst erfahren, worum es überhaupt geht im aktuellen Kehlmann-Werk.

Soviel vorweg: Am Anfang war ich durchaus Feuer und Flamme. Doch je weiter ich vorankam, desto entzauberter und ratloser blieb ich zurück. Man könnte auch sagen: ich war gelangweilt. Der Grund? Es muss die Figur TYLL gewesen sein, die mir bis zum heutigen Tag fremd geblieben ist. Dazu kommt noch der ständige Wechsel zwischen den Figuren – dieses Hin und Her – diese seitenlangen fiktiven Dialoge, historisch nicht belegbar, aber gut, auch die Figur des Gauklers, Schauspielers und Seiltänzers TYLL hat es ja so im Dreißigjährigen Krieg nicht gegeben. Vorbild war Till Eulenspiegel, auch Dil Ulenspiegel oder Dyl Ulenspegel, der angeblich als Schalk im 14. Jh. gelebt haben soll.

Positiv zu vermerken ist: Natürlich gab es beim Lesen im Verlauf der Kapitel die eine oder andere lesenswerte Passage, Dialoge waren hin und wieder sogar unterhaltsam, ja, und teilweise auch ganz witzig geschrieben. Doch im Großen und Ganzen, ehrlich gesagt, fühlte ich mich gelangweilt. Und ich habe mich mit falschen Hoffnungen durch die Episoden bis zum bitteren Ende gequält.

Begeistert war ich nicht, es war mir beim besten Willen (und der war stets vorhanden) nicht möglich, tiefer ins Geschehen einzutauchen, die Zeit zu vergessen, mich mitreißen zu lassen. Ganz einfach, weil mir vieles doch zu konstruiert erschien. Schon stand ich als Leser abseits und wunderte mich über mich selbst, warum ich überhaupt noch die Seiten umblätterte? So baute sich zusehends Distanz zur Story auf. Was mir fehlte, war der Sog einer glaubhaften Geschichte. Ein Abenteuer? Ein Drama im Dreißigjährigen Krieg? Nichts! Es gab so gut wie keine eindringlichen Bilder vom Elend, keine atemberaubende Atmosphäre, auch keinen anarchistischen Witz des Gauklers Tyll. Denn der blieb blass, ließ sich kaum blicken, kam zwar irgendwie durch die Episoden, aber ohne Spuren bei mir zu hinterlassen. Schon früh wurde mir klar, der TYLL spielt doch eher eine Nebenrolle. Warum dann dieser Titel?

Die acht Kapitel des Buches

Sie heißen: Schuhe, Herr der Luft, Zusmarshausen, Könige im Winter, Hunger, Die große Kunst von Licht und Schatten, Im Schacht, Westfalen.

Was mit den Worten „Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen…“ ganz gut anfängt, führt direkt ins Bürger-Leben der Zeit im Dreißigjährigen Krieg. Der legendäre TYLL kommt in eine Stadt, wird erkannt, obwohl ihn noch nie jemand gesehen hatte. Ganz klar, man war im Bilde, ob Jung oder Alt, man hatte von ihm gehört. Tyll also hat seinen Spaß mit den einfachen Leuten, die, von ihm angefeuert, ihre Schuhe in die Luft werfen und sich dann wild prügeln, um einen Grund zu haben, die aufgestauten Aggressionen loszuwerden.  Nun gut, sie wollten es so, die Bürger, ließen sich gern abgelenken vom Alltag. Aber dieser phänomenale Auftakt ist schnell zu Ende. Die Bewohner werden mit ein paar Sätzen ins Jenseits abgeschrieben: als Opfer des Krieges. Tyll ist weitergezogen. Und der Leser muss ganz neu beginnen. Nun gibt es einen Sprung zurück in Tylls Kindheit.

Schon ist man als Leser bei Vater Claus, der Müller ist, aber auch die Magie und viele rätselhafte Dinge des Alltags erforscht. Diese Zeit wird lesenswert in Herr der Luft veranschaulicht. Das beste Kapitel wie ich fand. Sehr gut geschrieben. Das einfache Leben der Menschen rückt ins Zentrum. Als Hexer entlarvt, auf Betreiben von zwei Fremden im Ort, A. Kirchner und Tesimond, wird der Vater nach Folter und Prozess gehängt. Alles nur, weil er ein Buch in lateinischer Sprache besaß, dass er selbst nicht lesen konnte. Tyll und Freundin Nele fliehen aus dem Ort. Fortan gehören sie zum fahrenden Volk, weil sie ein paar Kunststücke und die Leute begeistern können. Tyll tanzt auf dem Seil. Nele? Was tat sie doch gleich?  Beide schließen sich einer Figur namens Pirmin an, der ihnen als Gaukler alles Wichtige beibringen sollte, sie aber zu ihrem Unglück auch noch schlecht behandelte.

Im nächsten Kapitel Zusmarshausen wird es komplizierter. Man folgt einem dicken Grafen und muss sich als Leser durch Momentaufnahmen des Krieges quälen. Es langweilt, diesen Martin von Wolkenstein mit seinen Gefolgsleuten auf der Suche nach Tyll Ulenspiegel durch die Wirren des Krieges zu begleiten. Vermutlich, damit auch ein wenig vom Kriegsschauplatz zu erfahren ist.

Ebenso zieht sich das Kapitel Winterkönige hin, Tyll spielt darin nur eine Nebenrolle als Narr in den Diensten des Winterkönigs. Der König trifft mit Gustav Adolf im Feldlager zusammen und will seine Krone zurückhaben. Über das Angebot des Feldherrn ist er nicht erfreut. Das Gespräch der beiden Männer ist zwar unterhaltsam, mehr aber auch nicht. Gut für eine Theaterszene. Aber wie hätten wirkliche Könige und Feldherren  gesprochen? Das Experiment, den heutigen Umgangston zeitversetzt zu verwenden, mag es geglückt sein, aber beim Lesen hinterlässt das Ganze keinen großen Eindruck. Sehr gut beschrieben ist dann wieder die Szene mit dem sterbenden König, der die Pest hat und wie sich dieser  sterbende König und der Narr Tyll im Schnee verabschieden.

Das Kapitel Hunger beginnt sehr schön mit der Erzählung Neles aus der Zeit ihrer Kindheit und der Lehre bei Pirmin. Doch das Ganze endet mit dem Tod Pirmins, der von ihr und Tyll vergiftet wird. Angeblich. Leider sehr nüchtern und mit Distanz erzählt. Als Leser bleibt man kritisch zurück. Stimmt die Geschichte oder will sich Nele nur wichtig machen? Vielleicht war alles anders.

Stark konstruiert wirkt danach der Auftritt von Athanasius Kircher, Universalgelehrter, der den Gottorfer Hofmathematiker Olearius samt Sekretär und Dichterfreund Fleming in dem Kapitel Die große Kunst von Licht und Schatten dazu überredet, mit ihm auf Drachenjagd in Schleswig-Holstein zu gehen. Weil man Musiker braucht, um den Drachen ruhigstellen zu können, findet man diese zufällig in einem Wanderzirkus, zu dem auch Tyll & Nele gehören. Tyll spricht den von ihm erkannten Kircher unter vier Augen auf die einstige Geschichte mit der Hinrichtung seines Vaters an und gibt sich selbst als Alchimist aus. Kircher will sich nicht erinnern, hat Angst, fühlt sich in die Enge getrieben, denn Tyll erinnert an die Verhöre von damals und was er gegen seinen Vater aussagen musste. Kircher als Kenner der Zauberkräfte befreit sich mit Hilfe eines magischen Quadrates SATOR höherer Ordnung aus dem für ihn bedrohlichen „Verhör“. Aufgelöst im Rauch. Als Trick oder Demonstration der Macht vielleicht ganz lustig. So schnell kann auch eine Figur aus der Handlung verschwinden. Wenig später verabschiedet sich auch Nele von Tyll, um mit Olearius zu verschwinden, der sie heiraten will. Happy End!

Das folgende Kapitel „IM SCHACHT“ wirkt merkwürdig entrückt, spielt bei den Mineuren (Pioniersoldaten), ist also in die Unterwelt  verlagert, wo die Toten nah sind und erscheinen. Wo man seine Sünden bekennt. Und die Religion ins Spiel kommt. Beim Bauen von Tunneln versuchen die agierenden Figuren (Menschen aus dem Volk) noch kurz vor dem Ende des Lebens ihre Seelen zu retten. Obwohl die Gefechte oberirdisch verlaufen, herrscht unten Lebensgefahr und Todessehnsucht. Nur Tyll widerspricht trotzig dem allgemeinen Entsetzen und sagt: Ich sterbe heut nicht. Ich sterbe nicht.

Im letzte Kapitel Westfalen steht der Friede ins Haus. Im Mittelpunkt steht wieder Ihre Majestät, die Königin von Böhmen, bei einem Aufenthalt in Osnabrück. Worum es hier geht? Ums Leben der Monarchin. Graf Wolkenstein tritt wieder auf. Es geht um alles Mögliche, bis plötzlich Tyll erscheint, bei einer Vorstellung hat er sich verletzt, blutet, aber er ist jetzt als Narr beim Kaiser und lehnt das Angebot Elisabeths ab, mit ihm nach England zu gehen.

Viel Rauch um nichts oder ein laues Lüftchen ohne Folgen?

Diese ständigen Einschnitte, diese Verlagerungen, Szenenwechsel, das Auseinanderreißen der Handlung, hin zu Figuren, die Langeweile oder Stirnrunzeln verbreiten, gefällt mir nicht. Andere Leser mögen damit zufrieden sein, mir geht das nicht weit genug. Es fehlt was. Dazu kommen Dialoge voller Belanglosigkeiten. Aussagen, die im Sande verlaufen. Es bleibt nichts zurück, was auf mich in irgendeiner Form Eindruck gemacht hätte. Kurz: Das Buch hat mich nicht verändert. Ich fühle mich nicht angesprochen.

Aber ich denke, dass hätte ein Ziel sein können: dieses Hineingeworfensein in den Krieg, das Leiden, das Verschwinden und das noch bestehende Sein in Zeiten des Todes stärker herauszuarbeiten. Ein Narr hätte hier ein kluges Wort verlieren dürfen. Und was würde uns das in der Jetztzeit bringen? Der Text hätte wachrütteln, vor den Kopf stoßen, viele Fragen aufwerfen und das Bewusstsein für Kriege schärfen können. Geändert hätte das zwar nichts, aber es wären Ziele gewesen, doch bei mir als Leser blieben weder Fragen noch Antworten hängen.

Ich hatte mir zu viel von dem Buch versprochen.

Es waren viele zusammengewürfelte Momente aus dem 30-jährigen Krieg, die TYLL ausmachen. Von Zuständen und Protagonisten, zu denen ich lieber auf Abstand gehe, indem ich sie vergesse. Leider ein Buch, dem jede Atmosphäre fehlt, abgesehen von der Kindheitsgeschichte Tylls und dem Aberglauben „Luftgeist“ nachts im Wald. Stellenweise ist das einfach zu banal. Und überhaupt, was ist daran witzig, wie von vielen Kritikern gelobt?

Alles nur Show? Was wird mir als Leser vorenthalten? Warum taucht er nur hin und wieder auf. Warum spielt er eine Nebenrolle, während die anderen Figuren viel präsenter sind? Wo sind die Spiegel, die er den Herrschenden hätte vorhalten könnten? Ich habe von TYLL nur ein eher verschwommenes Bild bekommen. Vielleicht noch am ehesten leuchtet er in den Szenen, in denen er sagt „Ich sterbe nicht“, was ja auch eingetroffen ist aus heutiger Sicht. Der NARR bleibt. Er ist lebendig in der Erinnerung und noch immer gut genug für einen Roman. Einen besseren hätte es geben können.

 

Antiliterarische Umtriebe

Literarische Fehltritte? Kein Grund zur Panik…

L E S E S P L I T T E R b l o g

Eines Tages. Irgendwer entdeckt sie irgendwo: die literarische Wundertüte, prall gefüllt mit Lesefrüchten, auf einer Parkbank vergessen. Daraus könnte dann die Gruppe der Leserinnen und Leser nach Lust und Laune begehrte Lesetipps zum eigenen Gebrauch entnehmen. Schöne Vorstellung, wäre da nicht die Realität. Wären da nicht die Fallensteller, die blenden, verlocken und gnadenlos verreißen.

Aufmerksame und umtriebige Leser fragen sich schon jetzt: Was darf ich hoffen? Was muss ich finden? Wo liegt mein Leseglück? Ist meine Lektüreauswahl ein Missverständnis?  Weit gefehlt! Es ist weder dies noch jenes, vielmehr ist eine Wundertüte immer ein Geschenk der Fantasie und der Erwartungen. Aber sie zeigt, worum es auch geht beim leidenschaftlichen Lesen: auf kluge Auswahl und sichere Entscheidung.

Es wimmelt nur so von gutgemeinten Empfehlungen. Man liest beiläufig vor sich hin, ahnt nichts Böses und steckt plötzlich mitten drin im Sumpf antiliterarischer Umtriebe. Weil man nicht merkt, was fehlt, neben der reinen Story, was tiefer…

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Merkwürdige Bücherskulpturen überall

Es ist ein Trend im öffentlichen Raum. Oder ist es mehr? Jedenfalls gibt es dieses merkwürdige Phänomen Bücher liegen zu lassen. Im Bus, in der Bahn, beim Neurologen oder beim Tierarzt. Geht das, sie nach Gebrauch (was immer das ist?) für andere zu hinterlassen, wenn man sie ausgelesen oder nie gelesen hat? Diese Haltung muss Liebe sein. Ist aber nur reines Wunschdenken. Ich wünsche mir so sehr dein vorgeschobenes Interesse. Man denkt: Vielleicht helfe ich allen Süchtigen, die Lesestoff brauchen, um überleben zu können. 

Man stellt Bücher in frei zugängliche Schränke, legt sie in öffentliche Regale oder vergisst sie auf Ablageflächen im Postgebäude, transportiert sie in alte Telefonzellen oder Hauseingänge. Es gibt diese Orte in fast allen Städten. Sie überraschen mich immer wieder. Nicht erst seit gestern. Aber wie lange noch?

So langsam wird mir klar: das Gestrige ist längst schon ein Denkmal. Eine tollkühne Konstruktion habe ich da gesehen, fast erschien sie mir wie ein Wallfahrtsort. Fehlt nur noch, dass eines Tages „Ewige Lichter“ angezündet werden oder Blumen oder Reiskörner oder ein Coffee-to-go hinterlegt werden. Natürlich für die Buchgeister, die langsam aussterben.

Denn eines Tages ist es soweit. Und dann? Keine Ahnung. Eines Tages wird das letzte gedruckte Buch erscheinen und es wird sofort verboten werden, weil Bücher Zeit stehlen, Zeit, die man nützlicher zubringen könnte. Aber womit, wenn es nichts mehr zu tun gibt? Vielleicht wird Bücherbesitz auch bestraft. Weil Bücher gefährlich werden und zur Fantasie anregen könnten. Leser werden verhaftet, weil sie selbst denken lernen könnten. Und Denken ist verdächtig.

Verfolgt werden sie, die Denker der Zukunft. Ihre Bücher werden verbrannt. Es gibt eine coole ScienceFiction –Story von Ray Bradbury mit dem Titel „Fahrenheit 451“. Ein dystopischer Roman aus dem Jahr 1953. Aber soweit wird es nicht kommen. Soweit sind wir noch nicht.

Man weiß ja nie, wer mal das Sagen haben wird. Vielleicht geht alles viel schneller als gedacht. Möglicherweise wird das Buch an sich völlig überflüssig, einfach nur vergessen. Ach, Bücher, die gab es mal? Waren die nicht zum Ausmalen?

Erinnern wir uns: Es gibt immer noch diese Mahnmale, Buchskulpturen, ganze Bücherwände zum Schein, die jetzt schon da sind. Auch Bücher, in die man eintreten kann, um sich zu verlaufen, und Bücherentsorgungsvereine, die nur dazu dienen das Wissen aus Büchern in die Köpfe der Elite zu scannen. Aber es wird auch Geächtete geben, die mit ihren Büchern auf einsamen Inseln hocken. Und dann wird einer stranden, der weiß, dass man aus Büchern Häuser bauen kann. „Das Papierhaus“ – ein schmales Büchlein von Carlos Maria Dominguez erzählt davon.